: Wer einmal war. Das jüdische Großbürgertum Wiens 1800–1938. S–T. Wien 2023 : Amalthea Signum, ISBN 978-3-99050-061-3 1.544 S. € 175,00

: Wer einmal war. Das jüdische Großbürgertum Wiens 1800–1938. U–Z. Wien 2023 : Amalthea Signum, ISBN 978-3-99050-267-9 784 S. € 125,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dieter J. Hecht, Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften

Mit den gleichzeitig erschienen dritten und vierten Bänden seines Werks „Wer einmal war“ erschließt Georg Gaugusch nicht nur der Forschung, sondern auch einer interessierten Öffentlichkeit, das soziale Netzwerk jüdischer Familien in Wien für die Zeit von 1800 bis 1938. Mit seinen vier Bänden zeigt der Autor eindrucksvoll auf 5.370 Seiten, dass jüdische Genealogieforschung als integraler Teil des wissenschaftlichen Diskurses im deutschsprachigen Raum gesehen werden muss. Die nun vorliegenden neuen Bände enthalten 2.328 Seiten. Für seine Bücher recherchierte Gaugusch über zwei Jahrzehnte lang tausende von Daten in Archiven, Bibliotheken und Museen, in Matrikenämtern, auf jüdischen Friedhöfen und im Internet. Zur Organisation dieser Information findet sich in Gauguschs Buch ein übersichtlicher Handapparat, der neben einer genealogischen Anleitung von Band zu Band ausführlichere Quellenangaben, ein detailliertes Abkürzungsverzeichnis und eine Übersicht der für die Forschung essentiellen Internet-Datenbanken umfasst. Einführungen und dazugehörige Erklärungen wurden wohl etwas knapper, weil sich jeder Band als Fortsetzung der Vorgänger versteht. Das Namensregister ist wie schon bei den vorhergehenden Bänden online zugänglich.1 2024 soll ein eigener Band mit einem vollständigen Namensverzeichnis publiziert werden.

Mit den beiden letzten Bänden konnte Gaugusch seine detaillierten genealogischen Rekonstruktionen fortsetzten und ein Netzwerk jüdischer Familien aus dem Großbürgertum vorstellen. In den Einleitungen zu den einzelnen Einträgen werden immer wieder einzelne Individuen und ihre besonderen Leistungen hervorgehoben. Die sozialhistorischen Einleitungstexte zu jeder Familie eröffnen wertvolle kulturwissenschaftliche Ansatzpunkte und Querverweise für die Erforschung der jüdischen Geschichte. In die Beschreibung „seines“ Netzwerks finden wieder Pierre Bourdieus Thesen vom „sozialen Kapital“ und „kulturellen Kapital“ Eingang. Gaugusch zählt mittlerweile zu den wichtigsten rezenten Genealogen. Den weitverzweigten Netzwerken der in seinen Büchern vorkommenden Familien, die teilweise über den geografischen Raum der Habsburgermonarchie hinausgehen, trug Gaugusch Rechnung indem er kontinuierlich unzählige Friedhöfe von der Ukraine bis nach Großbritannien besuchte und die Ergebnisse in seine Forschung integrierte.

Um das Werk und die damalige jüdische Lebenswelt in der Habsburger Monarchie zu verstehen, veröffentlicht der Autor unter dem Eintrag Teller (S. 4482–4512) die Memoiren von Ottilie (von) Kahler, geb. Bondy (1857 Kuttenplan–1940 Prag) als einziges über viele Seiten gehendes Ego-Dokument. Zusammenfassend schreibt Gaugusch: „Ihre Schilderung der Prager jüdischen Verhältnisse im 19. Jahrhundert ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis der damaligen Lebenswelten, des herrschenden Wertekanons und der den ökonomischen Auf- oder Abstieg bestimmenden Kräfte.“ (S. 4482) Die Eltern von Kahler, Veit Bondy und Marie Teller, gehörten zwei prominenten Prager Familien an, deren Mitglieder auch in Wien ansässig waren. Um 1900 gehörten die Kahlers, Bondys und Tellers der sozialen und wirtschaftlichen Elite der Habsburger Monarchie an.2

Am Beispiel der Familie von Thenen (S. 4522–4528) zeigt sich die hohe soziale Mobilität jüdischer Familien, ihre Verschwägerung und Vernetzung. Wer hat beispielsweise schon von Tysmienitz gehört? Eine Kleinstadt in der heutigen Ukraine, die einmal Teil des Kronlandes Galizien war. Nathan Thenen (1803–1886) begründete dort mit Getreidehandel und Bankgeschäften ein florierendes Unternehmen, und erwarb umfangreichen Grundbesitz in Galizien und der Bukowina. Ein Teil seiner Kinder übersiedelte bereits nach Wien und verschwägerte sich mit verschiedenen bedeutenden Familien aus der gesamten Monarchie. Thenens Enkel Samuel Thenen (1850–1917) heiratete zum Beispiel Hermine Doctor (1868–1942 Treblinka), die Tochter von Hermann und Rosalia Doctor aus Nachod/Böhmen, die Besitzer eines der führenden Textilunternehmen der Monarchie waren. Über die Familie Doctor waren die Thenens auch mit der aus Preßburg stammenden Juweliers und Großhändlerfamilie Ratzersdorfer und den aus Prossnitz/Mähren stammenden Malzfabrikanten Zweig verschwägert.3

Nobilitierte jüdische Familien zählen für Gaugusch ebenfalls zum Großbürgertum, weil sie nicht in den Hochadel aufsteigen konnten, der eine eigene, hermetisch abgeschlossene Gesellschaftsschicht bildete. Neben einer umfassenden Genealogie und Quellenangaben sowie einer Beschreibung des Wappens bei nobilitierten Familien bietet Gaugusch seiner Leserschaft in den vorliegenden beiden Bänden weit ausführlichere sozialhistorische Familiengeschichten als zuvor. In diesem Kontext ist eine heute weitgehend vergessene Familie jene von Abraham Ullmann (S. 4616–4646) aus Fürth (Bayern), dessen Nachkommen wichtige Stützen der jüdischen Gemeinden in Pest, Preßburg und Wien wurden. Die Vernetzung der großen Familie liest sich wie das who is who dieser Städte: Bischitz de Heves, Cahn-Speyer, Holitscher, Kern, Leon, Mayer, Ratzersdorfer, Schlesinger, Schweinburg, Stein, Wodianer, Wottitz und Zweig, um nur einige zu nennen. Einzelne Familienteile wurden nobilitiert und erhielten das Adelsprädikat „de Szitány“, „von Erény“ und „de Baranyavár“. Teile der Familie blieben jüdisch, Teile ließen sich taufen.

Als weiteres Beispiel, das die Komplexität der Familiennetzwerke gut veranschaulicht, dient die Familie Schey (S. 3159–3181), deren Name aufgrund des gleichnamigen Palais auf der Wiener Ringstraße zumindest noch einem kleinen Kreis bekannt ist. Die Familie stammt aus Lackenbach (Burgenland) / Güns (Ungarn) und avancierte Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer der vermögendsten Unternehmerfamilien. Ab 1859 wurden mehrere Familienzweige nobilitiert mit dem Prädikat „von Koromla“ ausgezeichnet. Einzelne Mitglieder spielten eine bedeutende wirtschaftliche und gesellschaftliche Rolle in Wien. Besonders entlang der Ringstraße sind viele Mitglieder der Familie anzutreffen. Zu den verschwägerten Familien zählen die Familien Ephrussi, Figdor, Goldschmidt, Landauer, Lieben, Rothschild, Sichrovsky und Worms; außerdem der Textilunternehmer Gustav Przibram (1844–1904), der 1871 Charlotte Schey von Koromla (1851–1939) heiratete. Um 1900 besaß das Ehepaar Przibram zwei Palais auf der Ringstraße (Parkring) sowie weitere Immobilien in Wien.4 Charlottes ältere Schwester Emilie (1840–1913) war in zweiter Ehe mit Joseph Unger (1828–1913), Präsident des Reichsgerichts und Mitglied des Herrenhauses des österreichischen Reichsrats, verheiratet. 1938 wurden die Scheys enteignet, vertrieben und ermordet. Nach 1945 konnten die zurückgekehrten Mitglieder keine führende Rolle in der Wiener Gesellschaft mehr einnehmen. Heute erinnert kaum etwas an die Familie Schey, außer dem Ringstraßenpalais und einer monomentalen Grabanlage in der jüdischen Abteilung am Wiener Zentralfriedhof (1. Tor).

Abschließend sei noch auf den letzten Eintrag Zwiklitz verwiesen (S. 5363–5365), einer aus dem preußisch-schlesischen Pleß stammenden Familie, die über Breslau und Krakau den Weg nach Wien fand. Die Nobilitierung von Felix Zwiklitz (1836–1901) im Jahr 1886 bildetet den Zenit des Aufstiegs, dessen Basis Eisenbahnunternehmen und die Stahlindustrie darstellten. Wenige Jahre nach dem Tod von Zwiklitz zerstreuen sich die Spuren der Familien über mehre Erdteile. In Wien fällt sie des Vergessens anheim. Einzig sein Grabstein am Zentralfriedhof (Tor 1) und die von Friedrich Schön erbaute Villa Zwiklitz (1893) in Preßbaum zeugen vom ehemaligen Glanz der Familie. Ein Schicksal, dass viele prominente jüdische Familien teilen mussten. Mit den letzten beiden Bänden vollendete Georg Gaugusch ein Projekt, das einen sehr wichtigen Beitrag zur (Wiener) jüdischen Geschichte liefert.

Anmerkungen:
1https://www.genteam.at/de/ (25.03.2024).
2 Ottilie Bondy, Ein Beitrag zu einer Familiengeschichte des Hauses M.B. Teller: 1790-1890, verfasst in Ponaire (Frankreich) 1937, 54 Seiten. Leo Baeck Institute Archives, LBI Memoir Collection (ME 65), New York. Zu Ottilie Bondy vgl. Albert Lichtblau (Hrsg.), Als hätten wir dazugehört. Österreichisch-jüdische Lebensgeschichten aus der Habsburgermonarchie, Wien 1999, S. 338–353
3 Vgl. zur Familie Doctor: Georg Gaugusch, Wer einmal war. Das jüdische Großbürgertum Wiens 1800-1938, A-K, Wien 2016, S. 407–410. Vgl. Dieter J. Hecht, Der Weg des Zionisten Egon Michael Zweig. Olmütz-Wien-Jerusalem, Baram 2012.
4 Vgl. Gabriele Kohlbauer-Fritz (Hrsg.), Ringstraße. Ein jüdischer Boulevard, Wien 2015.

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